Die Prävalenz depressiver Erkrankungen nimmt in den westlichen Industrienationen immer weiter zu. So liegt die Wahrscheinlichkeit, als Erwachsener mindestens einmal im Leben an einer Depression zu erkranken, bei etwa 20 %. Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass aktuell ca. vier Millionen Menschen allein in Deutschland an einer depressiven Störung leiden. Bei vielen von ihnen tritt die Depression nicht isoliert, sondern im Verbund mit weiteren psychischen Problemen wie zum Beispiel Ängsten auf.

Heute weiß man, dass die meisten Depressionen chronisch verlaufen, es also nach einer ersten depressiven Episode immer wieder zu Rückfällen kommt. Wenn du bereits einmal die schmerzhafte Erfahrung einer Depression gemacht hast, kann das Erlernen von Achtsamkeit dir dabei helfen, die Gefahr eines Rückfalls langfristig zu reduzieren und einen besseren Umgang mit depressiven Phasen zu entwickeln. Aber auch wenn bei dir keine klinisch bedeutsame Depression festgestellt wurde und du nur hin und wieder unter einer niedergeschlagenen Stimmung leidest, kannst du von einer achtsamen Haltung im Alltag enorm profitieren.

 

Behandlung der Depression

In der Akutphase einer schweren Depression haben sich diverse Medikamente bewährt, die dem Patienten von einem Psychiater verschrieben werden. Auch verschiedene Psychotherapie-Verfahren erzielen gute Ergebnisse. Um der Besonderheit der Depression, die in der hohen Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls liegt, zu begegnen, wurden Therapieverfahren entwickelt, die bewährte Ansätze aus der Psychotherapie mit Achtsamkeitsübungen aus der buddhistischen Lehre verknüpfen. Diese Form der Psychotherapie nennt sich „MBCT“, zu deutsch „Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie“.

 

Wie entsteht ein Rückfall?

Während die Forscher früher davon ausgingen, dass die Ursache von depressiven Erkrankungen in den negativen Gefühlen zu suchen ist, die eine solche typischerweise begleiten (Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit, Schuldgefühle, Ängste etc.), gehen sie heute davon aus, dass sich eine Depression auf drei Ebenen abspielt: Der genannten emotionalen, aber ebenso auf einer kognitiven Ebene, die die Gedanken umfasst, sowie einer körperlichen Ebene.

Depressive haben oft typische, extrem negative Gedanken und Annahmen in Bezug auf sich selbst und die sie umgebende Welt. Beispiele für solche Gedanken können sein: „Ich bin nichts wert“, „Ich bin ein Versager“, „Ich bin selbst schuld an meiner Lage“, „Niemand mag mich“ oder „Es wird niemals besser werden“. Diese negativen Gedanken sowie die negativen Gefühle schlagen sich dann oftmals auch körperlich nieder und äußern sich in Verspannungen, Schmerzen, Beklemmungsgefühlen beim Atmen, Bauchschmerzen und vielem mehr. Ist diese Verknüpfung zwischen depressiven Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen erst einmal in einer ersten depressiven Episode entstanden, kann sie jederzeit reaktiviert werden.

Empfinden, ohne zu bewerten - erteilen Sie der Grübelei eine Absage.
Empfinden, ohne zu bewerten – erteilen Sie der Grübelei eine Absage.

So bewirkt bei Menschen, die eine Depression durchlebt haben, zum Beispiel häufig schon eine unbedeutende, kurzzeitige Traurigkeit, dass die altbekannten negativen Gedanken wieder auftauchen und die körperlichen Symptome zurückkehren. Umgekehrt kann der Gedanke „Mir gelingt nie etwas“ nach einem kleinen Fehlschlag dazu führen, dass sich all die depressiven Gefühle wieder einstellen. Auf diese Weise kommt es, ohne dass ein größerer äußerer Anlass nötig wäre, immer wieder zu Rückfällen.

 

Ansatzpunkt der Achtsamkeit

Der Teufelskreislauf aus depressiven Gedanken, Gefühlen und körperlichen Symptomen kann jedoch durchbrochen werden. An diesem Punkt kommt die achtsamkeitsbasierte Therapie ins Spiel. Zunächst einmal ist es wichtig, die Patienten über die automatischen Abläufe aufzuklären, die bei der Entstehung einer depressiven Phase auftreten. Ziel des Achtsamkeitstrainings ist dann, dass die Patienten lernen, diese Abläufe bewusst wahrzunehmen und gegebenenfalls rechtzeitig aus der Gedankenspirale „auszusteigen“, die sie sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit zurück in die Depression führen würde. Zu diesem Zweck lernen sie, ein achtsames Gewahrsein für ihre Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen zu entwickeln.

Die meisten Menschen achten nur selten bewusst auf das, was gerade in ihnen vor sich geht. Gedanken kommen und gehen, ohne dass wir ihnen viel Beachtung schenken, Gefühle beeinflussen unser Handeln, ohne dass uns dies überhaupt bewusst wird. Um einem Abrutschen in depressive Stimmungslagen entgegenwirken zu können, ist es aber notwendig, schon die ersten Anzeichen von negativen Gedanken oder auch ein schwaches Gefühl von Traurigkeit zu erkennen.

Diese Fähigkeit kannst du durch Achtsamkeitsübungen trainieren. Im Idealfall verinnerlichst du den Grundgedanken der Achtsamkeit, nämlich das offene, nicht-bewertende Wahrnehmen aller Empfindungen, so weit, dass du dieses auch in deinen Alltag integrieren kannst. Auf diese Weise steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dir eine achtsame Geisteshaltung als Hilfsmittel im Umgang mit depressiven Stimmungen dann auch im Ernstfall zur Verfügung steht.

 

Achtsames Wahrnehmen körperlicher Empfindungen

Häufig wird das Achtsamkeitstraining für depressive Patienten mit einer Schulung der Wahrnehmung körperlicher Empfindungen eingeleitet. Beim sogenannten „Body Scan“ nimmst du eine aufrechte Sitzhaltung ein, schließst die Augen und erkundest in Gedanken und unter Anleitung jeden einzelnen Teil deinees Körpers, indem du die Aufmerksamkeit gezielt dorthin lenkst. Viele Teilnehmer von Achtsamkeitskursen machen bei dieser Übung die erstaunliche Erfahrung, dass in jedem Körperteil etwas zu spüren ist, wenn sie sich bewusst mit diesem beschäftigen- sei es ein Kribbeln im linken Fuß, ein Ziehen im Bauch oder ein Jucken im Gesicht. Auch Verspannungen rücken plötzlich ins Bewusstsein, manchmal Schmerzen oder andere unangenehme Gefühle.

 

Widerstände loslassen

Wichtig ist, dass du all diese Empfindungen, egal, ob angenehm oder unangenehm, gleichermaßen offen und wohlwollend annimmst.

Die Achtsamkeitstheorie geht davon aus, dass ein Widerstand gegen unangenehme Wahrnehmungen, also zum Beispiel ein Verdrängen oder Ausblenden von Schmerzen oder die Wut über eine Verspannung diese langfristig nur noch verstärken. Stattdessen sollen alle Empfindungen akzeptiert werden, wie sie sind.

Als Patient ist es dein Ziel, deinen Symptomen eine wohlwollende, freundliche Haltung entgegen zu bringen und diese nicht zu verurteilen. Dies stellt die Voraussetzung dafür dar, dass du auch in schwierigen Zeiten gut für dich sorgen kannst.

 

Achtsames Wahrnehmen von Gefühlen

In einem zweiten Schritt lernen die Patienten, ihre Gefühlswelt in ihrer ganzen Bandbreite bewusst wahrzunehmen. Während der Achtsamkeitsmeditation wird der Blick hierzu gezielt auf alle Emotionen gerichtet, die währenddessen an die Oberfläche kommen. Häufig werden depressive Patienten von ihren Gefühlen geradezu überschwemmt und fühlen sich ihnen hilflos ausgeliefert, was zu ihrer depressiven Symptomatik beiträgt. Im Rahmen des Achtsamkeitstrainings machen sie die Erfahrung, dass auch negative Emotionen nicht ewig andauern, sondern nach einer Weile von selbst wieder vergehen, wenn man ihnen eine wohlwollende, neugierige Haltung entgegenbringt. Gleichzeitig wird Ihnen bei der Meditation schnell auffallen, wie sehr unsere Gefühle unser körperliches Wohlbefinden beeinflussen.

Wenn du achtsam in sich hineinhörst, stellst du unter Umständen fest, dass aufkommende Wut oder Traurigkeit beispielsweise eine vermehrte Anspannung der Gesichtsmuskeln, des unteren Rückens oder ein Engegefühl in der Brust bewirkt. All diese Wahrnehmungen solltest du einfach zur Kenntnis nehmen, ohne sie zu bewerten und ohne irgendetwas verändern zu wollen.

 

Achtsamkeit gegenüber den eigenen Gedanken

Besonders wichtig für depressive Patienten ist es, ein Gewahrsein für die eigenen Gedanken zu entwickeln. Eine zentrale Botschaft der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie der Depression ist die Überzeugung: „Du bist nicht deine Gedanken“. Den größten Teil unserer Gedanken denken wir nicht bewusst, sondern quasi „automatisch“. Nur weil bestimmte Gedanken wie „Ich bin ein Versager“ mit einer gewissen Regelmäßigkeit automatisch auftreten, sind sie aber noch lange nicht wahr. Im Rahmen der Achtsamkeitstherapie lernen Patienten, zwischen sich selbst und ihren Gedanken zu differenzieren und deren Realitätsgehalt kritisch zu hinterfragen.

Lassen Sie Gedanken wie Wolken vorüberziehen.
Lassen Sie Gedanken wie Wolken vorüberziehen.

Zu diesem Zweck wird zum Beispiel folgende Metapher verwendet: Stelle dir dein Bewusstsein als einen weiten Horizont vor, vor dem ab und zu Wolken vorüber treiben. Diese Wolken sind deine Gedanken- sie tauchen von alleine auf, verschwinden aber auch wieder. Je nach Inhalt können sie große oder kleine, dunkle oder weiße Wolken darstellen. Übe dich darin, diese Wolken in der Meditation einfach zu beobachten. Versuche nicht sie festzuhalten und sich nicht in ihnen verlieren. Auf diese Weise behandelst du Gedanken als das, was sie sind: geistige Phänomene, die unser Bewusstsein häufig automatisch generiert und die nicht unbedingt ein Abbild der Realität darstellen.

 

Übertragung der achtsamen Haltung auf den Alltag

Jeder Achtsamkeitskurs ist irgendwann zu Ende, und deshalb ist es gerade für depressive Patienten äußerst wichtig, die Praxis der Achtsamkeitsübungen in ihren Alltag zu überführen. Besteht bei Ihnen die Gefahr eines depressiven Rückfalls, so wird empfohlen, dass Sie Ihre Achtsamkeit regelmäßig „trainieren“. Auf diese Weise nehmen Sie schneller wahr, wenn sich etwas an Ihren Gedanken oder Gefühlen verändert und können gegensteuern, ohne sich in den Strudel der Depression ziehen zu lassen.

So kann zum Beispiel eine beginnende Verspannung darauf hindeuten, dass im eigenen Leben gerade etwas schief läuft. Oder der automatisch auftretende Gedanke „Ich bin einfach nichts wert“ kritisch hinterfragt statt als absolute Wahrheit akzeptiert werden. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, sich im Alltag möglichst viele Gelegenheiten zu schaffen, um die eigene Achtsamkeit zu trainieren. Dies können formale Übungen wie der Body Scan oder auch alltägliche Handlungen sein, bei denen man bewusst aus dem ständig ablaufenden Gedankenkarussell aussteigt und seine Aufmerksamkeit ganz auf das Hier und Jetzt lenkt.

 

Wirksamkeit der Achtsamkeit

Studien haben gezeigt, dass die Gefahr eines Rückfalls bei schwer chronisch Depressiven durch ein gezieltes Achtsamkeitstraining um 50 % gesenkt werden konnte. Je höhere Werte ein Patient dabei auf einer Achtsamkeitsskala erzielte, umso geringer war sein nachfolgendes Rückfallrisiko. Auch während der Akutphase der Depression konnte durch die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie die Depressionssymptomatik stark verringert werden.

Langfristig kann ein Achtsamkeitstraining sogar dabei helfen, die Gehirnaktivität, die bei Depressiven gestört scheint, wieder zu normalisieren, was wiederum das Risiko für suizidale Depressionen verringert. Gleichzeitig hilft Achtsamkeit nachweislich dabei, komorbide psychische Störungen wie Ängste etc. zu lindern und schafft so eine bessere Lebensqualität für stark belastete Patienten.

 

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