Während in den Sechzigerjahren nur einige wenige Psychoanalytiker mit Elementen der buddhistischen Achtsamkeitslehre in der Psychotherapie experimentierten, dürften heute die meisten Therapeuten mit dem Prinzip der Achtsamkeit vertraut sein. Achtsamkeitsübungen werden vor allem von kognitiv-behavioral arbeitenden Psychotherapeuten eingesetzt, wie zum Beispiel der Dialektisch-Behavioralen Therapie, der Akzeptanz-Commitment-Therapie (ACT) und der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie.

Daneben sind eigenständige Achtsamkeitsübungen auch wesentlicher Bestandteil der Psychodynamisch Imaginativen Traumtherapie nach Luise Reddemann.

Das Einsatzgebiet beschränkte sich zunächst auf die Behandlung von chronischen Schmerzen. Da das Interesse in der Psychotherapie-Forschung an achtsamkeitsbasierten Methoden und ihren Verwendungsmöglichkeiten aber stetig wächst und auch zunehmend eine breite Öffentlichkeit mit dem Achtsamkeits-Gedanken vertraut ist und entsprechende Übungen in der Therapie nachfragt, werden fortlaufend neue therapeutische Konzepte entwickelt, die auf einer Auseinandersetzung mit der eigenen Achtsamkeit gründen bzw. die Achtsamkeit als einen Therapiebaustein in die Behandlung psychisch Kranker miteinbeziehen.

Dies hat dazu geführt, dass achtsamkeitsbasierte Übungen mittlerweile fester Bestandteil der Therapie eines breiten Spektrums psychischer und körperlicher Beschwerden geworden ist. Nach wie vor am häufigsten eingesetzt werden das Programm MBSR, eine auf den Gedanken der Achtsamkeit beruhendes Methode zur Stressreduktion und die MBCT, ein therapeutisches Programm zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen, das gezielt Achtsamkeitsübungen mit Elementen aus der kognitiven Psychotherapie verbindet.

 

Dysfunktionale Denkmuster erkennen

Unabhängig davon, unter welcher psychischen Belastung du leidest, kannst du mithilfe einiger klassischer Achtsamkeits-Übungen viel über dich selbst lernen. Alle Menschen entwickeln im Umgang mit den alltäglichen Widrigkeiten des Lebens Strategien, die ihnen bei deren Bewältigung helfen sollen. Mit der Zeit werden diese zunehmend automatisiert und bestimmen unser Denken und Handeln, ohne dass wir dies bewusst zugelassen hätten. In der Regel ist uns nicht einmal bewusst, dass gerade wieder ein bestimmtes Schema abläuft, und so können wir dieses auch nicht kritisch reflektieren.

Ziel der Achtsamkeit in der Therapie ist es, wieder Kontakt mit unserer Gedanken- und Gefühlswelt aufzunehmen. Indem du lernst, in angeleiteten Übungen die Augen zu schließen und dich mental ganz deinen Empfindungen und Gedanken zu widmen, wirst du mit der Zeit immer besser in der Lage sein, die Zusammenhänge zwischen Emotionen und automatischen Gedanken zu erkennen.

So kann zum Beispiel, wenn du unter einer Depression leidest oder früher einmal gelitten hast, schon ein leichtes Gefühl von Traurigkeit sofort und ohne dein Zutun Bilder vergangener trauriger Ereignisse und der damals durchlebten Gefühle heraufbeschwören. In der Folge wirst du feststellen, dass sich auch deine Gedanken verändern- warst du vorher noch ruhig und ausgeglichen, so machen sich in dir plötzlich selbstkritische Gedanken und Gedanken der Hoffnungslosigkeit breit. Dein Therapeut hilft dir dabei, diese Gedanken als solche aus der Vergangenheit zu identifizieren, die keinerlei Daseinsberechtigung haben, sondern einfach durch bestimmte Gefühle oder Erlebnisse automatisch getriggert werden.

Da wir im Alltag in der Regel nicht gezielt in uns hineinhören, bemerken wir solche Gedanken gar nicht bzw. empfinden sie als so vertraut, dass wir sie nicht hinterfragen. Die Achtsamkeitslehre vertritt im Umgang mit solchen belastenden Kognitionen eine eindeutige Position: Wir sind nicht unsere Gedanken. Was wir denken, ist kein realistisches Abbild der Realität, sondern nur eine Interpretation, die auch falsch sein kann. Dies ist besonders wahrscheinlich, wenn es sich um automatische Gedanken handelt, die entstehen, bevor unser Bewusstsein alle relevanten Aspekte der aktuellen Situation wirklich erfasst hat.

Diese Erkenntnis kann sehr entlastend wirken und hat für die meisten psychischen Probleme Gültigkeit, denn automatische Gedanken und Gefühle treten bei vielen psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel chronischen Schmerzen, Ängsten oder Essstörungen auf. Mithilfe Ihres in Achtsamkeit geschulten Therapeuten kannnst du lernen, diese Mechanismen zu identifizieren und sich gegebenenfalls von ihnen zu distanzieren. In der Folge kannst du im Rahmen der Psychotherapie neue Strategien zur Lebensbewältigung erarbeiten, die für deine psychische Gesundheit förderlicher sind.

 

Übung

Eine der Methoden, die häufig in der Psychotherapie eingesetzt werden und die dabei hilft, sich von den eigenen Gedanken zu distanzieren, ist die, sich die eigenen Kognitionen bildhaft vorzustellen.

Manche nutzen dazu eine Metapher, bei der sich das eigene Bewusstsein wie ein weiter Horizont aufspannt, vor dem dann einzelne Wolken, die Gedanken, vorbeiziehen. Diese Wolken können klein oder groß sowie weiß oder dunkel sein, je nachdem, welchen Inhalt sie haben und welche Gefühle sie in uns auslösen. Manche Gedanken sind so überwältigend und bedrohlich, dass sie wie eine Gewitterwolke den ganzen Horizont verdunkeln. Andere sind klein und leicht und sind kaum zu sehen. In jedem Fall aber ziehen sowohl Wolken als auch Gedanken vorbei.

Aufgabe des Achtsamkeitsschülers ist es, sie zu beobachten, ohne sie wegzuscheuchen oder im Gegenteil festhalten zu wollen. Es gilt, jeden auftauchenden Gedanken interessiert zu beobachten, zu sehen, wie er sich verändert und schließlich von alleine wieder verschwindet bzw. von einem neuen Gedanken abgelöst wird.

Dieses Bild macht deutlich, dass Gedanken zum einen bloße Phänomene innerhalb unseres Geistes sind und keinesfalls mit diesem identisch. Zum anderen vermittelt es die Erkenntnis, dass kein Gedanke so mächtig ist, dass er ewig bestehen bleibt.

Wer möchte, kann auch ein für sich passenderes Bild verwenden, zum Beispiel das eines langen Strandes, an dem in regelmäßigen Abständen Wellen heranbranden, kleine oder größere, je nach Art des Gedankens. Auch hier nimmst du als Achtsamer die Haltung des unbeteiligten Beobachters ein, der dem Wellenspiel zusieht, ohne es beeinflussen zu wollen.

 

Der achtsame Psychotherapeut

Grundvoraussetzung dafür, als Psychotherapeut mit den Mitteln der Achtsamkeit arbeiten zu können, ist eine eigene intensive Auseinandersetzung mit diesem Konzept. Dazu gehört auch die eigene Praxis, beispielsweise durch Erlernen der Achtsamkeit in einem Kurs oder einer selbständigen Meditation mithilfe von Übungsbüchern oder –CDs. Nur wer die Wirkweise der Achtsamkeit „am eigenen Leib“ erfahren hat, wird in der Lage sein, diese seinen Patienten glaubhaft zu vermitteln.

Dass sich das Erlernen der Achtsamkeit gerade für Angehörige des therapeutischen Berufs lohnt, liegt auf der Hand. Schließlich gehört eine offene, interessierte und wertfreie Haltung im Umgang mit unterschiedlichen Persönlichkeiten und ihren individuellen Problemen zu den Schlüsselqualifikationen, die ein guter Psychotherapeut mitbringen sollte.
Eine achtsame Haltung hat dabei viel mit Empathie zu tun- wer gelernt hat, den Menschen vor sich bewusst und mit allen Sinnen wahrzunehmen, kann sich leichter in diesen einfühlen. Auf diese Weise fühlt sich der Patient besser verstanden und wird schneller Vertrauen zu seinem Therapeuten fassen, das es ihm ermöglicht, sich immer mehr zu öffnen.
Auf die Dauer ist ein solches Vertrauensverhältnis die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, und nicht umsonst gilt in der Psychotherapie-Forschung die Therapeut-Klienten-Beziehung als einer der wichtigsten Wirkfaktoren.

Nicht immer fällt es Therapeuten leicht, den Patienten in ihrer Obhut vollkommen wertfrei gegenüber zu treten. Auch hier kann die Achtsamkeit zu einem neuen Verständnis der eigenen Rolle führen. Als Therapeut solltest du in deiner Achtsamkeitsmeditation daran arbeiten, Gefühle von Abneigung oder auch Aggression nicht zu leugnen oder zu ignorieren, sondern sie bewusst und ohne sie zu verurteilen wahrzunehmen. Nur wenn du dir deiner Gefühle bewusst bist, kannst du dich dafür entscheiden, dich nicht von ihnen lenken zu lassen.

Gleiches gilt für Gefühle von Sympathie oder Zuneigung, die ebenfalls im Rahmen einer therapeutischen Beziehung auftreten können und im Widerspruch zur geforderten neutralen Haltung des Therapeuten stehen. Dein Ziel sollte es sein, diese bewusst wahrzunehmen und dann immer wieder zu einer wertfreien Haltung zurückzukehren. Nur wenn du dein eigenes Gefühlsleben reflektierst, wird der Patient dich als authentisch wahrnehmen.

 

empathie ist der schlüssel einer gelingenden Therapeuten-Patienten-Beziehung.
empathie ist der schlüssel einer gelingenden Therapeuten-Patienten-Beziehung.

Das achtsame therapeutische Gespräch

Wie oben dargestellt, sollte die Achtsamkeit sowohl vom Therapeuten als auch Klienten kultivieren werden, damit sie ihre volle Wirkung entfalten kann. In der Verhaltenstherapie, die viel mit den Mitteln des therapeutischen Gesprächs arbeitet, kann eine achtsame Haltung besonders gut geübt werden. Beide Gesprächspartner sollten hierbei darauf achten, das vom anderen Gesagte zunächst einmal einfach wahrzunehmen, ohne es zu bewerten. Ziel ist es, dass du mit der Zeit eine wohlwollende, neutrale und interessierte Haltung dem anderen gegenüber entwickelst, die auch dann zum Tragen kommt, wenn dieser dir für dich unangenehme Dinge mitteilt.

Um dies zu erreichen, solltest du versuchen, während der andere spricht ganz beim Gesagten zu bleiben und nicht gleichzeitig schon zu planen, was du entgegnen könntest. Beobachte dich dabei ganz genau, welche Gefühle und körperlichen Empfindungen sich einstellen. Bemerkst du beispielsweise ein Gefühl der Ablehnung, der Wut oder Scham? Entstehen vor deinem inneren Bild Erinnerungen an Dinge, die du lieber vergessen würdest? Wo schlägt sich dies in deinem Körper nieder? Nicht selten bemerken in der Achtsamkeit geschulte Patienten, wie sich das Gesagte und Gehörte unmittelbar in körperlichen Empfindungen ausdrückt, zum Beispiel in einer Verkrampfung bestimmter Muskelgruppen, im nervösen Kneten der Hände oder einer flachen Atmung. Dabei handelt es sich um wichtige Signale unseres Körpers, die uns manchmal besser Auskunft darüber geben können, was gerade in uns vorgeht, als unser bewusstes Denken.

Durch achtsamkeitsbasierte Übungen zum Beispiel in der Behandlung von Traumafolgestörungen kannst du solche Empfindungen gezielt als therapeutisches Instrument einsetzen. Auch wird so eine Beobachtung des therapeutischen Erfolges möglich, wenn du mit der Zeit feststellst, dass sich deine Gedanken beim Sprechen über ein bestimmtes belastendes Thema und die begleitenden körperlichen Empfindungen sowie negativen Emotionen verändern, bis du eine annähernd neutrale innere Haltung erreicht hast.

 

Wirksamkeit der Achtsamkeit in der Psychotherapie

In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Studien erschienen, die die Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Verfahren im psychosozialen Kontext untersucht haben. Als gut gesichert gelten unter anderem die achtsamkeitsbasierten Methoden zur Stressreduktion und der Rückfallprophylaxe bei Depressionen. Hier haben verschiedene Studien eindrucksvoll gezeigt, dass Achtsamkeitmeditation die von den Patienten berichteten körperlichen und psychischen Symptome langfristig reduzieren und die Lebensfreude verbessern konnte.

Stressgeplagte Patienten, die ihre Achtsamkeit geschult hatten, konnten anschließend belastende Situationen besser bewältigen und beschrieben sich als vitaler. Auch entwickelten sie im Verlauf der Therapie eine bessere Fähigkeit zur Entspannung als solche Patienten, die an einer regulären Therapie teilgenommen hatten. Schließlich führte ihre innere Achtsamkeit zu einem gestärkten Selbstvertrauen und einer größeren Akzeptanz den eigenen Schwächen und Fehlern gegenüber, die als ein wichtiger Faktor für die psychische Gesundheit angesehen wird.

Insgesamt weisen die empirischen Befunde darauf hin, dass der Einsatz von Achtsamkeitsübungen im therapeutischen Setting sowohl bei Therapeuten als auch bei Patienten zu einer verbesserten Aufmerksamkeits- und Emotionsregulation führt. Achtsame Psychotherapeuten erleben eine Verbesserung ihrer therapeutischen Fähigkeiten, insbesondere der Empathie, was wiederum die Qualität ihrer Therapie erhöht und zu einer größeren Zufriedenheit mit der Psychotherapie auf Seiten der Klienten führt.

Patienten, deren Therapeuten regelmäßig selbst meditieren und ihre Erfahrungen mit den Patienten teilen, fühlen sich besser verstanden. Sie erleben es als wohltuend, wenn ihr behandelnder Therapeut ihnen mit der von der Achtsamkeitslehre propagierten offenen, wohlwollenden und freundlichen Haltung gegenübertritt. Auf diese Weise scheint der Einsatz von Achtsamkeit einen wichtigen Heilungsfaktor bei der Behandlung unterschiedlichster psychischer Erkrankungen darzustellen und fördert gleichzeitig die persönliche Weiterentwicklung von Therapeut und Patient. Anzumerken ist, dass sich ein langfristiger Effekt nur einstellt, wenn die Meditation auch nach Beendigung der Therapie fortgeführt wird.