Die Grundprinzipien der Achtsamkeit werden meist in einem Kurs unter geführter Anleitung oder direkt bei einem Meditationslehrer erlernt. Um dauerhaft von den Vorzügen dieser buddhistischen Lehre zu profitieren, ist es jedoch unerlässlich, sich auch im Alltag Zeit für das persönliche Achtsamkeitstraining zu nehmen und so die persönlichen achtsamen Fähigkeiten immer weiter zu entwickeln.

Für die meisten Menschen ist es nicht einfach, die regelmäßige Meditationspraxis in ihren Alltag zu integrieren. In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen über chronischen Stress klagen, ist für viele jeder Tag durchgetaktet. Für die meisten wird es also darum gehen, sich die Zeit zum Meditieren zu nehmen, obwohl subjektiv gar keine vorhanden ist. Auf Dauer kann die Achtsamkeit aber nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie regelmäßig praktiziert wird. Manche Menschen stehen früher auf, um sich z.B. vor der Arbeit eine Viertelstunde Zeit zur Besinnung zu nehmen.

Andere machen es sich zur Gewohnheit, regelmäßig nach dem Feierabend eine Auszeit einzubauen. Wie auch immer du deine Meditationspraxis handhabst- es ist wichtig, am Ball zu bleiben und regelmäßig zu üben. Dies muss nicht täglich und nicht immer eine halbe Stunde sein- auch schon einige Minuten, konzentriert durchgeführt, helfen dabei, wieder in Kontakt mit den eigenen Gefühlen und Gedanken zu treten.

Diese Minuten solltest du dir gerade in besonders stressigen oder belastenden Situationen nehmen, da wir gerade dann dazu neigen, unüberlegt und ohne auf unsere Gefühle zu hören zu handeln. Ein kurzes Durchatmen, Zurücktreten und Reflektieren dessen, was gerade in uns vorgeht, kann dabei helfen, ruhiger zu werden und die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

 

Achtsamkeit bei alltäglichen Handlungen

Um die Erinnerung an die Prinzipien der Achtsamkeit wach zu halten und die eigene Wahrnehmung zu schärfen, bedarf es aber nicht immer der formalen Meditationspraxis. Einer der großen Vorteile der Achtsamkeit ist die Tatsache, dass es keinen Lebensbereich gibt, in dem sie nicht geübt werden kann und ihre Wirkung entfaltet. Hat man einmal den Grundgedanken der Achtsamkeit verinnerlicht und seine Wahrnehmung und Konzentrationsfähigkeit geschult, lässt sich ein achtsames Gewahrsein auf alle Bereiche des Lebens übertragen. Jede noch so alltägliche Tätigkeit kann als eine Übung in Achtsamkeit verstanden werden, die die formale Praxis ergänzt.

 

Achtsamkeit beim Essen

Eine solche „ganz normale“ Tätigkeit, der wir üblicherweise viel zu wenig Beachtung schenken, ist das Essen. Wie viele andere alltägliche Handlungen, denen wir nicht viel Bedeutung beimessen, führen wir auch die Nahrungsaufnahme häufig unachtsam und beinahe “automatisch” aus (manche Meditations-Lehrer sprechen vom “Autopilotenmodus”). Das Essen findet oft unter Zeitdruck statt oder wird sogar als notwendiges Übel empfunden.

Hinzu kommt, dass die Besinnung auf das Essen immer öfter durch Ablenkungen beerhindert wird, wie z.B. einem laufenden Fernseher, einem Computerbildschirm oder auch durch Gespräche, dies während des Essens geführt werden. Alle diese Faktoren führen dazu, dass wir den Vorgang des Essens nicht bewusst wahrnehmen.

 

Die Rosinenübung ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Wirkungsweise von Achtsamkeit im Alltag.
Die Rosinenübung ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Wirkungsweise von Achtsamkeit im Alltag.

Die Rosinen-Übung

Eine der bekanntesten Achtsamkeitsübungen, die häufig zu Beginn des Unterrichts eingesetzt wird und das achtsame Essen zum Thema hat, ist die Rosinen-Übung:

Nimm dir eine Rosine in die Hand und stelle dir vor, du kämst von einem anderen Planeten und hättest ein derartiges Objekt noch nie gesehen. Führe die Rosine vor deine Augen:

  • Was nimmst du wahr? Wie fühlt sich die Struktur der Rosine zwischen deinen Fingern an?
  • Wie ist die Oberfläche beschaffen, gibt es helle oder dunkle Stellen, Erhebungen oder Einbuchtungen?
  • Als nächstes folgt das Riechen. Hat die Rosine einen bestimmten Geruch? Wenn ja, woran erinnert er dich?
  • Führe dir sie zum Mund. Spüre, wie dein Mund wässrig wird, bevor du die Rosine auf Ihre Zunge legen. Nimm wahr, wie sich die Frucht in deinem Mund anfühlt.
  • Beiße vorsichtig darauf. Was passiert? Kaue ganz bewusst, erspüre die Konsistenz und den Geschmack der Rosine in all ihren Facetten.
  • Bevor du herunterschluckst, versuche, zunächst die Absicht zu schlucken wahrzunehmen, bevor du diese ausführst.
  • Versuche, die Rosine auf deinem Weg Richtung Magen zu verfolgen. Was spürst du?

Viele Menschen, die diese Übung zum ersten Mal ausführen, geben an, eine Rosine noch nie auf diese Weise wahrgenommen zu haben. Sie entdecken Aspekte in Geruch, Geschmack, Aussehen und Konsistenz, die ihnen bisher komplett entgangen sind- einfach dadurch, dass sie ihre Aufmerksamkeit ganz bewusst ausrichten. Das Essen einer kleinen getrockneten Frucht wird zu einem wahren Erlebnis.
Im Umkehrschluss wird dir vielleicht bewusst, auf welche Erfahrungen du bewusst oder unbewusst verzichtest, wenn du, wie meist üblich, eher im „Autopiloten-Modus“ isst. Die Rosinen-Übung soll als Anregung dienen, die bewusste Art der Nahrungsaufnahme auch im Alltag zu kultivieren.

 

Achtsam essen im Alltag

Versuche, während jeder Mahlzeit einmal kurz inne zu halten und sich ganz der Wahrnehmung deines Essens zu widmen. Wie fühlen sich zum Beispiel das Kauen und das Schlucken an? Verschafft dir das Essen ein Gefühl der Sättigung und Zufriedenheit oder eher nicht? Essen ist immer auch mit Emotionen verbunden. Vielleicht bemerkst du, dass unterschiedliche Gerichte sich auf verschiedene Weise auf deine Psyche auswirken. Es kann auch vorkommen, dass ein bestimmtes Lebensmittel starke Erinnerungen weckt. Spüre genau nach, wie sich diese anfühlen und wo im Körper du sie wahrnimmst.

Achtsam zu essen lässt sich üben, wobei eine achtsame Geisteshaltung nicht erst beim Essen beginnt. Auch das Kochen eignet sich gut, um sich ganz im aktuellen Moment zu verankern. Statt zum Beispiel halb-automatisiert Zutaten zu zerkleinern und dabei mit den Gedanken in ganz andere Bereiche abzuschweifen, kann der Fokus immer wieder auf die gerade ausgeführte Tätigkeit gerichtet werden- mag sie auch noch so trivial erscheinen.

 

Achtsamkeit beim Gehen

Eine andere gute Gelegenheit, um die eigene Achtsamkeit zu schulen, ist das Gehen. Fast jeder hat wohl schon einmal die Erfahrung gemacht, dass er mit einem bestimmten Ziel losgelaufen ist und einige Zeit später feststellt, dass er einen häufig gewählten Weg automatisch eingeschlagen hat, obwohl er eigentlich einen anderen nehmen wollte. Auch hier hat das Gehirn das eigene Verhalten selbständig und automatisch gesteuert, da die Aufmerksamkeit gerade mit anderen Dingen beschäftigt war. Meistens bemerkt derjenige, dem dies passiert, erst hinterher, wie sehr er sich, ohne dies zu wollen, in Gedanken verloren hatte.

Probiere einmal aus, zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit nicht in Gedanken bereits den Tag zu planen oder Probleme zu wälzen, sondern deine Aufmerksamkeit ganz bewusst auf die einzelnen Körperempfindungen zu lenken, die während des Gehens auftreten. Auf diese Weise wirst du mit einem Mal Dinge wahrnehmen, die vorher unbemerkt und automatisch abliefen: Wie der Fuß auf dem Boden aufsetzt, wie sich das Anspannen und Lockerlassen von Muskeln anfühlt. Welche Muskelgruppen benötigt werden, um Gliedmaßen zu strecken oder zu entspannen. Wie sich der Rhythmus Ihres Atmens während des Gehens verändert, welche Temperatur die Luft in Ihrer Umgebung hat, wie das Wetter ist und vieles mehr. Mache es dir zur Gewohnheit, jeden kleinen Weg, den du zu Fuß zurücklegst, für eine kurze Achtsamkeitsmeditation zu nutzen.

Im Grunde kann jeder im Alltag stattfindende Bewegungsablauf genutzt werden, um Kontakt zum Hier und Jetzt aufzunehmen. Auch während einer sportlichen Einheit solltest du immer wieder gedanklich kurz innehalten und ganz bewusst deinen beschleunigten Atem, das Gefühl von Schweiß auf der Haut, die Belastung der Muskeln etc. wahrnehmen. Auf diese Weise wirst du mit der Zeit auch ein genaueres Gespür für deine eigene Leistungsfähigkeit bekommen, was besonders für Sportler wichtig ist, die dazu neigen, sich zu stark zu verausgaben oder zu überfordern.

 

Gehmeditation kann ein Teil des Achtsamkeitstrainings sein.
Gehmeditation kann ein Teil des Achtsamkeitstrainings sein.

Die achtsame Geh-Meditation

Natürlich kannst du das achtsame Gehen auch gezielt üben, indem du im Alltag statt der regelmäßigen Sitz- hin und wieder eine etwas zehnminütige Geh-Meditation durchführen.

Wähle dazu einen Ort, an dem du auf- und abgehen kannst, ohne dass dich jemand stört oder du dich beobachtet fühlst. Stelle dich an das eine Ende des Weges und blicke geradeaus. Die Füße stehen parallel, die Arme hängen entspannt an den Seiten des Körpers.

Richte dein Gewahrsam auf die Fußsohlen und die Körperempfindungen, die dort durch den Kontakt mit dem Boden entstehen. Kannst du das Gewicht spüren, das auf dir lastet? Verlagere nun dein Gewicht auf das rechte Bein. Spüre nach, wie das linke Bein dabei gleichzeitig entlastet wird. Hebe langsam die linke Ferse an und spüre, wie der ganze Fuß abrollt, bis du nur noch mit den Zehenspitzen den Boden berührst. Was geschieht durch die Bewegung in deiner Wade?

Setze den Fuß nun vor dich auf den Boden und nehme bewusst wahr, welche Körperempfindungen sich in Fuß und Bein ergeben, während sie sich durch die Luft bewegen. Erlaube deinem linken Fuß, nach und nach wieder Kontakt mit dem Boden aufzunehmen. Fühle, wie sich das Gewicht nun nach links verlagert und das rechte Bein entlastet wird? Hebe nun langsam den rechten Fuß an und wiederholen das Bewegungsmuster, bis du am Ende des Weges angelangt bist. Wenn du bemerkst, wie deine Gedanken abschweifen, ist das nicht schlimm. Du solltest sie aber immer wieder sanft auf den Vorgang des Gehens zurückleiten, um mit der Aufmerksamkeit ganz im aktuellen Moment zu verbleiben. Es ist sinnvoll, zu Beginn der Geh-Meditation etwas langsamer zu laufen als normalerweise, um die einzelnen Empfindungen bewusst zu erfahren.