Die Prävalenz von Essstörungen hat in den letzten 100 Jahren stark zugenommen. Unterschieden werden die Störungen Magersucht (Anorexia nervosa), Bulimie (Bulimia nervosa) und Binge Eating. Während die ersten beiden von einer übermäßigen Beschäftigung mit dem eigenen Gewicht und dem Thema Essen gekennzeichnet sind, erleiden Patienten mit der Binge Eating- Störung immer wieder Heißhungerattacken und essen mehr, als ihnen gut tut bzw. ihr Körper braucht. Auch für die Bulimie sind periodisch wiederkehrende Essanfälle typisch.
Während Magersüchtige und Bulimiker aber mit unterschiedlichen Strategien versuchen, ihr Gewicht niedrig zu halten (durch ständiges Diäthalten, exzessiven Sport, vermehrtes Trinken, Erbrechen oder den Missbrauch von entwässernden und abführenden Medikamenten), ergreifen Binge Eater keinerlei Gegenmaßnahmen. Die Folge ist bei Magersüchtigen leichtes bis extremes Untergewicht, bei Bulimikerinnen unteres Normalgewicht und bei Binge Eatern leichtes bis extremes Übergewicht.
Allen Essstörungen gemeinsam ist, dass sie hauptsächlich Frauen betreffen (Verhältnis ca. 80 zu 20) und für die Betroffenen einen enormen Leidensdruck mit sich bringen. Im Extremfall kann vor allem die Magersucht auch tödlich verlaufen. So weit muss es jedoch nicht kommen. Verschiedene Psychotherapieverfahren erzielen gute Erfolge bei der Behandlung von Essstörungen. In letzter Zeit kombinieren immer mehr Psychotherapeuten die bewährten kognitiven und verhaltenstherapeutischen Verfahren mit achtsamkeitsbasierten Übungen, die eine zusätzliche Entspannung im Umgang mit dem Thema Essen bewirken können.
Gestörtes Essverhalten
Die Art und Weise, wie essgestörte Patienten Nahrung zu sich nehmen, ist sehr unterschiedlich. Allen Störungen gemeinsam ist aber ein auffälliges bzw. oftmals hochgradig gestörtes Essverhalten. So tun Magersüchtige alles, um die Kalorienzufuhr möglichst stark zu beschränken. Zu diesem Zweck werden Mahlzeiten ausgelassen oder nur winzige Portionen verzehrt. Viele Magersüchtige versuchen auch, den Bauch mit möglichst viel Flüssigkeit zu füllen, um ein Sättigungsgefühl herbeizuführen. Unter Umständen nehmen sie nur solche Lebensmittel zu sich, die als „ungefährlich“ gelten, also eine niedrige Energiedichte aufweisen. Und teilweise wählen sie dabei hauptsächlich Lebensmittel, die ihnen nicht schmecken, um so der Gefahr entgegen zu wirken, zu viel zu essen.
Bulimikerinnen und Patientinnen, die an der Binge Eating-Störung leiden, erleben im Gegensatz dazu Essanfälle mit völligem Kontrollverlust. Häufig werden diese im Voraus geplant, z.B. indem Unmengen an hochkalorischen Lebensmitteln eingekauft werden. Der Essanfall selbst findet dann meist zu Hause ohne Anwesenheit anderer statt, da die Betroffenen sich für ihren unkontrollierbaren Hunger schämen. Verzehrt werden hier beinahe ausschließlich Lebensmittel, die die Patienten besonders gerne essen. Dennoch wird das Essen in der Regel nicht als wirklich befriedigend erlebt. Im Gegenteil, die Patientinnen berichten, sich währenddessen sehr angespannt und wie unter Zwang zu fühlen. Ihr Essen wird häufig von festen Ritualen bestimmt, und die Nahrungsaufnahme erfolgt in sehr kurzer Zeit, wobei sie verschiedenste Lebensmittel durcheinander essen. Erleichterung bringt den Bulimikerinnen erst das Erbrechen hinterher, während Binge Eater nach der Essattacke meist starke Schuldgefühle erleben.
Mit Achtsamkeit zum lustvollen Essen zurück finden
Das gestörte Essverhalten ist einer der Ansatzpunkte der achtsamkeitsbasierten Therapie von Essstörungen. Sowohl beim rigiden Essverhalten der Magersüchtigen als auch den Essanfällen von Bulimikern und Binge Eatern folgt das Essen strengen Regeln, die einem bewussten Wahrnehmen dessen, was gegessen wird, entgegenstehen. Während das Essen für die meisten Menschen einen lustvollen Vorgang darstellt, der von positiven Emotionen begleitet wird, haben Essgestörte häufig richtiggehend Angst vor bestimmten Lebensmitteln.
Gerade Magersüchtige versuchen, beim Essen möglichst wenig Genuss zu verspüren, um nicht in Versuchung zu geraten, gegen ihren strengen Diätplan zu verstoßen. In der achtsamkeitsbasierten Therapie der Essstörungen sollen die Patientinnen lernen, einen wieder zu einem entspannteren Umgang mit dem Essen zu finden. Sie schulen in Übungen ihre sinnliche Wahrnehmung und durchbrechen so den Kreislauf ihres hoch automatisierten Essverhaltens.
Langfristiges Ziel des Achtsamkeitstrainings ist es, dass die Patientinnen wieder Freude am Essen empfinden. In der Achtsamkeit lernst du, genau zu reflektieren, was während des Essens in deinem Körper vorgeht und welche Gedanken dir in den Sinn kommen. Auf diese Weise entwickelst du wieder ein Gespür dafür, welche angenehmen oder unangenehmen Gefühle bestimmte Lebensmitteln in dir auslösen.
Auf den eigenen Körper hören
Mit der Zeit wirst du lernen, wieder in Kontakt mit deinem Körper und seinen Bedürfnissen zu treten, statt diese zu leugnen. Unser Körper ist weiser, als wir oft annehmen, und vermittelt uns alle wichtigen Informationen. Er signalisiert uns, wann er Nahrung braucht und sogar, welche Lebensmittel ihm gut tun würden. Viele Essgestörte haben sich im Laufe ihrer Erkrankung aber darin geübt, diese Signale nach Möglichkeit nicht wahrzunehmen bzw. zu ignorieren. Vielleicht hast du auch schon einmal die Erfahrung gemacht, dass bei einer längeren Diät irgendwann das Hungergefühl nachlässt. Oder du empfindest, wie viele Patienten mit einer Essstörung, das Gefühl von Hunger als äußerst unangenehm und sogar bedrohlich.
Durch gezielte Übungen kannst du lernen, sowohl Gefühle von Hunger als auch von Sättigung wieder bewusst wahrzunehmen, wann immer sie auftreten. Das regelmäßige Achtsamkeitstraining wird dir helfen, deine Gefühle von Hunger wieder differenzierter zu betrachten. Dabei wirst du unter Umständen die Entdeckung machen, dass sich Hunger bei weitem nicht immer gleich anfühlt, sondern dass es viele verschieden Arten von Hunger gibt und dieser sich im Laufe des Tages in seiner Intensität stark verändert.
Dies ist auch für Patientinnen mit einer Binge Eating-Störung von großer Bedeutung, die ebenfalls nicht ihrem Hungergefühl folgen, sondern viel größere Mengen essen, als ihr Körper benötigt. Eine achtsame Haltung kann ihnen dabei helfen, langsamer und bewusster zu essen und ein Gefühl für die einsetzende Sättigung zu entwickeln.
Falls du unter Magersucht leidest, wird es für dich darum gehen, das Gefühl eines gefüllten Magens, zum Beispiel nach dem Trinken großer Mengen Flüssigkeit, von wirklicher Sättigung zu unterscheiden. Häufig wirkt die Erfahrung, dass keine großen Portionen nötig sind, um zu einer Sättigung zu führen, eine Entlastung für Magersüchtige, da sie insgeheim befürchten, zu viel zu essen, wenn sie sich von ihrem Hungergefühl leiten lassen.
Der achtsame Umgang mit Gefühlen
Essstörungen sind oftmals ein Mittel, um mit unerwünschten Gefühlen besser fertig zu werden. Sowohl das reduzierte als auch das übermäßige Essen können dazu dienen, die eigenen als belastend empfundenen Emotionen zu regulieren. So bewirkt das strikte Diäthalten bei Magersüchtigen eine Hochgefühl und Stolz auf die eigene Disziplin. Häufig geht dies Hand in Hand mit einem Gefühl der Überlegenheit über die meisten anderen, als schwach angesehenen Mitmenschen, die weniger Kontrolle über ihr Essverhalten haben.
Durch eine achtsame Haltung kannst du lernen, diese Gefühle und die sie begleitenden Gedanken deutlicher wahrzunehmen. Versuche, im Alltag immer wieder in dich hinein zu hören, welche Aktivitäten positive Gefühle in dir auslösen. Auf diese Weise wirst du alternative Handlungen identifizieren, die dir gut tun und deinen Selbstwert steigern. Dazu können zum Beispiel zählen: Ein heißes Bad nehmen, mit einem guten Freund telefonieren, sich eine Massage gönnen oder einen achtsamen Spaziergang unternehmen.
Leidest du hingegen unter Essanfällen, so hast du vermutlich festgestellt, dass die Attacken stets an Tagen auftreten, an denen deine Stimmung gedrückt ist. Typische Auslöser von Heißhungeranfällen sind depressive Verstimmungen, Gefühle von Trauer, Hilflosigkeit oder Enttäuschung durch andere. Das Essen stellt dann einen Versuch dar, diese negativen Emotionen loszuwerden, indem man sich etwas vermeintlich Gutes gönnt. Langfristig ist das übermäßige Essen jedoch keine Lösung, da der damit einhergehende Kontrollverlust als beschämend empfunden wird und die eigene Hilflosigkeit nur noch verstärkt. Beim Binge Eating kommt noch die Gewichtszunahme hinzu, die mit der Zeit zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führt.
Es ist notwendig, dass Sie einen achtsamen Umgang mit Ihren Gefühlen entwickeln, um den Teufelskreislauf der Essstörung zu durchbrechen.
Dazu gehört, dass du lernst, schon die ersten Anzeichen aufkommender Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit wahrzunehmen und an solchen Tagen besonders gut für dich sorgen. Statt durch essen solltest du deine Gefühle in Zukunft durch angenehme Aktivitäten positiv beeinflussen, die dir gut tun statt zu schaden.
Wahrnehmen statt bewerten
Viele Essgestörte stellen sehr hohe Erwartungen an sich selbst und neigen zu Perfektionismus. Gelingt es ihnen nicht, die selbst aufgestellten Regeln einzuhalten, bestrafen sie sich häufig mit Selbstvorwürfen. In Gedanken bezeichnen sie sich dann als gierig, undiszipliniert und wertlos. Im Rahmen der Achtsamkeit lernen Sie stattdessen, wahrzunehmen ohne zu bewerten. Ziel ist es, das eigene Verhalten und Fühlen ohne Vorwürfe von Schuld zu reflektieren und kleinere Fehler zu akzeptieren, ohne sie gleich zu verurteilen.
Der „innere Kritiker“ wird abgelöst durch ein wohlwollendes Interesse dem eigenen Geist und Körper gegenüber und einem umfänglichen Annehmen der eigenen Persönlichkeit mit all ihren Stärken und Schwächen. Auf diese Weise findest du zu mehr Gelassenheit und kannst klüger reagieren, falls du wieder einmal die eigenen Regeln der Selbstkontrolle verletzt.
Wirkung der Achtsamkeit bei Essstörungen
Der Einsatz achtsamkeitsbasierter Verfahren bei der Behandlung von Essstörungen ist noch relativ neu. In einer Studie mit 18 Patienten mit einer Binge Eating- Störung, die sieben Wochen lang mit dem sogenannten Mindfulness- Based Eating Awareness- Trainings (zu Deutsch etwa: Achtsamkeitsbasiertes Training des bewussten Essens) behandelt wurden, zeigte sich ein deutlicher Effekt der Achtsamkeit auf die Häufigkeit der Essanfälle. Während die Teilnehmer zuvor im Schnitt vier Heißhungeranfälle pro Woche erlebt hatten, konnten sie durch die regelmäßige Achtsamkeitspraxis in Verbindung mit wöchentlichen Gruppentreffen die Zahl der Essanfälle auf durchschnittlich 1,5 reduzieren.
Gleichzeitig gingen die Symptome von Begleiterscheinungen wie Angst oder Depression signifikant zurück. Außerdem berichteten die Patienten, durch die Achtsamkeit wieder zu mehr Freude am Essen gefunden und ihre Kontrolle über ihr Essverhalten verstärkt zu haben.
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